Christina Clemm: “. Ich ertrage es nicht, dass Frauen fast immer nur als Leichen in Krimis vorkommen.”
Christina Clemm ist Anwältin, Aktivistin und seit diesem Jahr auch Autorin. In “AktenEinsicht” (Kunstmann Verlag) erzählt sie die Geschichten ihrer Klientinnen nach und berichtet mithilfe dieser von einer unerträglichen Vielfalt von Gewalt und Misogynie, aber auch vom gesellschaftlichen Alltag und den Strukturen, die dies durch alle Schichten hinweg ermöglichen. Doch dass diese Einsichten im Gegenzug zu Krimis nicht belletristisch unterhalten, sondern informieren und auch aufwecken sollen, ist für Clemm ein wichtiger Teil ihrer Arbeit. Sie sucht viele verschiedene Wege, um den Betroffenen ein Gesicht und vor allen Dingen eine lautere Stimme zu geben, das Tabu zu brechen.
Unsere Redakteurin Mascha Jacobs hat sie für den Literaturpodcast “Dear Reader” zum Gespräch getroffen – hier ein Auszug des gemeinsamen Gesprächs:
Christina – du hast dir unter anderem mit einer Freundin am Küchentisch die Aktion “Unteilbar” ausgedacht. Du arbeitest also nicht nur als Anwältin, sondern auch als Aktivistin.
CC: Genau. Aber das war nicht mit einer Freundin am Küchentisch, das waren schon ein paar mehr. Ich glaube, wir waren sechs Leute, die sich das am WG-Tisch ausdachten. Wir wollten diesem ganzen Wahnsinn etwas entgegensetzen und das ist auch erstmal gelungen.
Wir organisierten es in sehr kurzer Zeit und haben von sehr vielen Menschen eine unglaubliche Resonanz bekommen, die – glaube ich – vorher noch nie auf Demonstrationen. Es gab noch eine Folgeveranstaltung in Sachsen, in Dresden letztes Jahr und es gibt auch immer noch weitere kleinere und größere Aktionen. Daraus ist ein Ausdruck für eine solidarische Gesellschaft entstanden, die sich nicht teilen lassen will und die diesem ganzen rechten Denken und Handeln etwas entgegensetzt.
MJ: Ich erinnere mich an das Gefühl auf der Demonstration. Ich hatte den Eindruck, dass alle um mich herum bestärkt wurden, dass eben doch genug Menschen anders denken und sich einsetzen. Das war für mich eines der wichtigsten emotionalen Erlebnisse in den letzten Jahren, als wir uns alle angesehen und miteinander über das Denken und Handeln gesprochen haben. Es sind sehr viele unterschiedliche Menschen zusammengekommen und freuten sich, dass sie nicht alleine, sondern alle zusammen eben „Unteilbar“ sind.
CC: Es ging darum sich selbst zu vergewissern: wir sind da, es gibt viele von uns, wir sind nicht alleine, es gibt nicht immer nur diesen immer größer werdenden rechten Konsens.
MJ: Das ist nur ein Beispiel für den politischen Einsatz neben deiner eigentlichen Arbeit als Rechsanwältin für Familien- & Strafrecht. Um die Erfahrungen in diesem Bereich geht es auch in deinem Buch “AktenEinsicht- Geschichten von Frauen und Gewalt”. Man bekommt durch die verschiedenen Fallgeschichten einen sehr guten Einblick in deine tägliche Arbeit, aber auch in die einzelnen Schicksale. zudem sind sie bereichert durch Informationen zu unserem Rechtssystem inklusive politischer Einordnung.
CC: Es hat mir viel, viel Spaß gemacht das zu schreiben und immer weiter daran zu feilen. Es war ein langer Weg sowohl die Form zu finden, als dann auch den finalen Inhalt. Ganz am Anfang habe ich eher einen Roman geschrieben – dann sind es aber doch die Sachgeschichten geworden. Oder eben persönliche Geschichten mit sachlichen Einsprengseln darin.
MJ: Es geht um Fallgeschichten d.h. deine Erfahrung aus der Arbeit mit Frauen, die von Gewalt betroffen sind. Du schreibst in der Vorbemerkung, dass das nicht 1:1 die Fälle sind, die du aus deiner Praxis dokumentiert hast – sie sind also fiktional?
CC: Die Fälle sind so in der Form nicht vorgekommen. Ich kann nicht ähnlich einer Journalistin einfach nur die Namen ändern und den Ort. Sonst hätte man die Frauen anhand meiner Fallakten identifizieren können.
Deswegen habe ich die Geschichten nacherzählt – sie sind aus Fragmenten verschiedener Erfahrungen und Fälle zusammengefügt und kommen theoretisch so jeden Tag in Deutschland vor. Ich werde oft gefragt, wie realistisch die Beispiele im Buch sind. Sie sind Alltag und in der Realität manchmal noch viel schlimmer. Aber das ist eben das Problem – man glaubt es nicht, weil die Fälle so selten erzählt werden und die Opfer kaum Sichtbarkeit erhalten. Deswegen wollte ich sie aufschreiben und darüber sprechen.
MJ: Du sparst auch nicht an Kritik gegenüber Richter*innen und Staatsanwält*innen. Warum war es dir wichtig, dich trotz aktivem Beruf und täglichem Austausch mit ihnen so deutlich gegen manche ihrer Entscheidungen zu positionieren?
CC: Das war eine sehr schwierige Entscheidung. Ich habe viel darüber nachgedacht und hatte lange Zeit auch den Gedanken, es unter Pseudonym zu veröffentlichen. Aber viele kluge Menschen, z.B. auch meine Verlegerin, haben klar signalisiert, dass es nur mit meinem Namen und der damit verbundenen Erfahrung und Haltung funktioniert.
Es gibt natürlich Kritik an Richter*innen sowie Kolleg*innen oder Entscheidungen der Staatsanwaltschaft. Aber mir geht und ging es nie darum, Personen persönlich anzugreifen oder sie fertig zu machen. Ich glaube, es gibt ein massives strukturelles Problem, das aufgezeigt werden muss.
Zum Beispiel müssen Richter*innen keine Fortbildungen machen. Alle studieren Jura, alle machen ein Referendariat. Da kommen Opferschutz oder Befragungstechnik oder Re-Traumatisierung aber überhaupt nicht vor. Wir lernen es, in dem wir es tun und manche können es besser und manche können es weniger gut. Das ist dann Glück oder Pech für das Opfer.
Zudem entscheidet jede Richter*in für sich. Es gibt die richterliche Unabhängigkeit, die natürlich sehr wichtig ist. Die wenigsten Richter*innen setzen sich aber z.B. in die Verhandlungen der Kolleg*innen rein und sehen sich mal an, wie die das machen und versuchen zu lernen. Ich glaube, es ist ein Fehler, dass sie nicht auf einer kollegialen Ebene zusammenarbeiten und sich nicht fortbilden müssen, dass sie kaum kritisiert werden, dass es keine regelmässige Validierung der Arbeit und Entscheidungen gibt. Die enorme Arbeitsbelastung, meistens sogar Überlastung kommt dann noch dazu. So geraten sie in einen enormen Druck, dass in zu wenig Zeit zu viele Entscheidungen getroffen werden müssen.
Richter*innen haben einen großen gesellschaftlichen Wert und Auftrag, in der Umsetzung bräuchten sie noch weit mehr Unterstützung – aber auch Kontrolle.
MJ: Gewalt gegen Frauen ist auch in Deutschland bis heute ein sehr großes Problem und zudem ein Tabuthema. In den Zeiten von Corona gab es eine leicht erhöhte mediale Öffentlichkeit, weil auch die Zahlen währendessen massiv gestiegen sind. Trotzdem hier ein Auszug aus dem Buch, um die Bedeutung in der Bevölkerung zu verdeutlichen:
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Nach den Zahlen des Bundekriminalamtes werden jedes Jahr in Deutschland mehr als 100.000 Frauen Opfer sogenannter Partnerschaftsgewalt. Circa 15.000 Kinder und Jugendliche werden sexuell missbraucht, circa 75% davon sind weiblich. Nahezu 9.000 Frauen werden jährlich Opfer von Vergewaltigung, sexueller Nötigung und sexuellen Übergriffen, mehr als 400 Frauen Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution. Hinzu kommen täglich mehrere Angriffe aus rassistischer, anti-muslimischer, anti-feministischer oder ansonsten menschenverachtender Motivation auf Frauen. Dies sind nur die Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistiken, also den Verfahren die angezeigt wurden. Die Dunkelziffer wird weit höher vermutet. Hinter diesen Zahlen stehen Schicksale. Schicksale von Frauen, die selten Gehör finden.
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Gerade wir Frauen kennen oft selbst Freund*innen, die von Gewalt betroffen waren oder gehören selbst dazu. Die Zahlen sind eigentlich bekannt, wir alle haben Betroffene im privaten und/oder beruflichen Umkreis. Die größere Dimension wird einem dann erst durchs Buch klar. Nur – weshalb ändert sich nichts, weshalb verändern wir nichts?
CC: Die einfache Antwort ist: weil wir im Patriachiat leben. Gewalt gegen Frauen oder als Frauen gelesene Personen ist bei uns Alltag und es wird bis heute trotz aller Zahlen und medialrn Fälle heruntergespielt. Jeden November werden die neuen Zahlen veröffentlicht und ist dann immer kurz in der Presse, es gibt einen Aufschrei: “Oh Gott, das ist ja schrecklich, jeden zweiten bis dritten Tag wird eine Frau umgebracht von ihrem Partner, wie fürchterlich!“. Aber nach wenigen Tagen ist die Erregung und Empörung wieder vorbei.
Es ist ja nicht so, dass das Männern einfach passiert, sondern Gewalt ist eine Entscheidung. Gewalt ist zudem immer auch eine Machtdemonstration. Die extremste Form von Frauenhass ist es gewalttätig zu werden und das wird weiterhin hingenommen und geduldet in dieser Gesellschaft. Mittlerweile würde ja niemand mehr offen sagen, es wäre total okay seine Frau zu schlagen. Aber es wird ihr mit die Schuld gegeben, im Sinn von: “die Frau lässt sich schlagen, die hat sich den ja auch ausgesucht und könnte einfach gehen. Irgendwie steht sie ja offenbar auf so einen aggressiven männlichen Typen!“.
Niemand stellt die Frage: warum macht der Mann denn weiter? Warum hat er nicht nach dem ersten Mal gelernt, dass er das auf gar keinen Fall tun darf? Es geht auch hier stets um die Schuld der Frau, die es zulässt, der Fehler wird ihr zugeschrieben. Auch wird ihr stets misstraut. Es gibt niemals einen Vergewaltigungsvorwurf, bei dem nicht sofort mit dem Verdacht auf Falschaussage geantwortet wird. Natürlich muss das in einem Gerichtsverfahren geprüft werden, gar keine Frage. Es gibt weiterhin die Unschuldsvermutung. Aber es ist eben gesellschaftlich so tief verankert, dass man den Frauen eigentlich nicht trauen kann, wenn sie so etwas erzählen, obwohl wir alle wissen, dass es stimmt und dass es diese massive Gewalt und Unterdrückung gibt.
Zudem der Verdacht, dass Frauen sich durch eine Anzeige etwas versprechen würden, absurd. Ich habe noch nie eine Frau erlebt oder vertreten, die einen Karrieresprung durch eine Vergewaltigungsanzeige gehabt hätte oder weil sie ihren Arbeitgeber anzeigt oder das überhaupt nur öffentlich macht.
MJ: Ganz im Gegenteil, oder?
CC: Im Gegenteil, genau. Selbst wenn der Täter verurteilt wird, ist sie ja ihr Leben lang als Opfer stigmatisiert. Oft will sie kein anderer Arbeitgeber mehr haben, weil sie in der Unterstellung dazu neigt anzuzeigen, wenn es schwierig wird – dass sie selbst schwierig ist. Wenn man ihr aber glaubt, dann ist sie traumatisiert und alles bleibt für sie für immer schwierig.
MJ: Es ist doch auch wirklich absurd, dass es sehr oft Gespräche unter Frauen über diese Fälle gibt – aber sehr selten Männer sagen: “Hallo, wir haben es hier mit einem strukturellen, alltäglichen Problem zu tun. Auch wenn ich nicht derjenige bin, der selbst gewalttätig ist – aber das so viele um mich herum das immer noch als legitimes Mittel anwenden, das kann ja wohl nicht sein, was ist eigentlich mit uns los?”
Wo ist die Männerbewegung, die sich für die Opfer und gegen die Täter einsetzt?
CC: Das frage ich mich auch. Aber es reicht nicht aus als progressiver Mann zu sagen “ich bin ja nicht gewalttätig”. So wie wir uns hoffentlich gegen Rassismus engagieren und gegen soziale Ungleichheit, sollte auch der Einsatz gegen die geschlechtsspezifische Gewalt selbstverständlich sein. Das passiert aber nicht.
Ich frage immer wieder Männer: “Wie ist das eigentlich, wenn du mit deinen Kumpels ausgehst – spricht da mal jemand darüber wie er seine Frau verprügelt oder welche Gewalterfahrungen sie haben?” Aber angeblich kennt trotz der Statistik nie jemand einen Täter und wir wissen, dass es nicht stimmt und dass sie neben uns wohnen und arbeiten, egal an welchem Ort oder in welchen Kreisen. Ich bekam auch von Männern als Reaktion auf mein Buch oft zu hören, dass sie es angefangen haben und dann weglegen mussten – es wäre zu schrecklich und sie hätten gar nicht gewusst, dass all das jeden Tag in ganz Deutschland geschieht. Aber wie sehr muss man die Augen verschließen, um das nicht zu wissen?
Tatsächlich habe ich zunehmend weniger Lust mit Männern darüber zu diskutieren, wenn sie sich nicht ernsthaft damit beschäftigt haben und einen Weg für ein eigenes Engagement suchen. Das gilt auch für die linken Kreise, in denen ich mich bewege. Es geht um soziale Ungerechtigkeit und um Rassismus, aber Gewalt gegen Frauen, das ist meistens kein Thema.
MJ: Woran liegt das deiner Meinung nach?
CC: Wir müssen viel früher und verbreiteter über die Erziehung von Jungs nachdenken. Was sind denn bis heute die Bilder von einem Mann, der angeblich stark und laut sein muss und auch mal auf den Tisch haut? Ich bin immer wieder erschüttert, welche Vorstellungen es weiterhin gibt: der nicht weinende Junge, der keine Emotionen zulässt, das hysterische Mädchen, diese ganzen Geschlechterstereotypen.
Leider geht das in vielen Bereichen sogar rückwärts, gerade wenn wir uns konservative Bewegungen ansehen. Progessive Männer müssten sich eigentlich damit auseinandersetzen, weil das in ihrem allernächsten Umfeld geschieht und wer von und für eine gleichberechtigte Gesellschaft lebt, muss sich mit dem Thema beschäftigen. Wir stoßen hier auf sehr alte, patriachiale Strukturen, die wir als Frauen und sozialisierte Menschen ja trotzdem in uns tragen.
MJ: Zurück zum Buch – inwiefern war dir nicht nur der Inhalt, sondern auch der Schreibstil bzw. die Form wichtig, um das Thema richtig zu vermitteln?
CC: Ich hatte große Angst, dass es zu voyeuristisch ist. Ich wollte nicht die gängigen Klischees bemühen, ich wollte möglichst divers denken und schreiben. Ich wollte gerne darstellen, wie wichtig der Zusammenhang von Rassismus und Sexismus ist. Dann war für mich die Sprache wichtig, d.h. dass ich mit Sternchen schreibe und damit möglichst viele Menschen einschließe. Das war nicht so leicht, alle, die mit der Produktion des Buches zu tun hatten, davon zu überzeugen.
Ausserdem war für mich wichtig, dass die Anwältin nicht die Heldin des Buches ist, die alles super und cool leistet. Sie sollte im Hintergrund stehen und stattdessen die Betroffenen im Vordergrund. Neulich gab es einen Vergleich, dass ich ähnlich wie Ferdinand von Schirach schreiben würde. Mir haben seine ersten Bücher durchaus gut gefallen, ich habe das gerne gelesen. Ich habe mich dann aber geärgert über den coolen Strafverteidiger und wie mit diesem lakonischen Stil über schwerste Verbrechen geschrieben wird, ohne Empathie für die Opfer. Dass es gar kein Mitfühlen gab.
Dann habe ich irgendwann gedacht, ich ertrage es eigentlich gar nicht mehr. Ich ertrage es nicht, dass Frauen fast immer nur als Leichen in Krimis vorkommen. Vielleicht sind sie noch die coole Ermittlerin, die dem Helden zuarbeiten darf, aber die Geschichten der Opfer werden nicht erzählt. Das ist mein Anlass gewesen, um dieses Buch zu schreiben.
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