Wissenschaftskommunikation: Merlin Sheldrake – der Herr der Pilze
Während Sie diese Worte lesen, verändern Pilze den Ablauf des Lebens, wie sie es schon seit über einer Milliarde Jahren tun, schreibt Merlin Sheldrake in der Einleitung seines 2020 bei Ullstein erschienenen Buchs “Verwobenes Leben – Wie Pilze unsere Welt formen und unsere Zukunft beeinflussen” (Übersetzung: Sebastian Vogel). Eines von vielen Büchern aus dem Hype der Naturkunde, wo wir Bäume umarmen, Waldbaden und Oktopoden lieben sollen? Nein, eben nicht – es sticht heraus, es begeistert uns für bisher Ungesehenes und Unsichtbares. Wie gelingt es dem Wissenschaftler, so spannend zu erzählen? Redakteurin Yvonne Franke hat ihn einfach selbst gefragt!

Die Welt der Pilze, die von der der Menschen und so gut wie allem anderen auf diesem Planeten nicht zu trennen ist, ist so vielfältig, dass die moderne Forschung ihre Ausmaße bisher nur erahnen kann. Sheldrake ist euphorisch und ebenso mitreißend. Das liegt zum einen an seiner lebhaften Sprache, die seine Forschungsausflüge und Experimente bebildern wie einen Abenteuerroman und zum anderen daran, dass das von ihm beschriebene World Wood Web der Pilze tatsächlich unfassbar aufregend ist. Da gibt es zum Beispiel “Zombiepilze”, die die Muskelfasern von Ameisen umgarnen und sie wie Marionetten Dienste ausführen lassen. Es gibt biologisch leuchtende “Gespensterpilze”, die man zur Beleuchtung der ersten U-Boote eingesetzt hat. Oder Schimmelpilze, die auf dem kürzesten Weg aus jedem Labyrinth heraus finden. Die kann man dann beispielsweise für die Verkehrsplanung in großen Städten einsetzen. Aber auch Halluzinogene hat Sheldrake mit vollem Körpereinsatz mutig erforscht. Ihn interessieren aber nicht nur die lauten Themen sondern auch die zarten Zwischentöne. Die der Sprache zum Beispiel. Wenn er die Gerüche verschiedener Trüffelarten beschreibt, klingt er wie ein besonders einfühlsamer Sommelier: “Gardamid riecht wie Grapefruit und schwitzende Pferde.” Und plötzlich verschwindet die Distanz zwischen dem Experten einer so speziellen Disziplin wie der Pilzforschung und denen, denen er davon erzählt. Wie macht er das?

Wie wichtig ist es für die Wissenschaftskommunikation, ein guter Erzähler zu sein?
Es kommt darauf an, welche Art Wissenschaftler*in man ist. Das Geschichtenerzählen ist ein wesentliches Werkzeug der modernen wissenschaftlichen Praxis. Man braucht es, um Zuschüsse zu beantragen, um Forschungsarbeiten zu verfassen und um Ergebnisse auf Konferenzen zu präsentieren. Es gibt jedoch unzählige Formen wissenschaftlicher Arbeit. Manche Forscher*innen verbringen mehr Zeit mit dem Schreiben und Präsentieren, als andere. Für erstere ist der Druck größer, herausragende Vortragende zu sein. Anderen ist es wichtiger, ihre technischen Fähigkeiten zu vertiefen, Experimente durchzuführen oder sich auf ihre Talente im Programmieren zu konzentrieren. Natürlich ist das Geschichtenerzählen ein grundlegender Teil der menschlichen Interaktion, in der Wissenschaft und anderswo. Es spielt in jedem Feld, dessen Grundlage die Kommunikation zwischen Menschen ist, eine zentrale Rolle.

Sie nutzen eine sehr bildhafte Sprache, wenn sie von Ihren Forschungen berichten. Eine Sprache, die Ihre Leidenschaft für Ihr Forschungsfeld gut transportiert. Wo haben Sie gelernt, so spannend zu erzählen?
In meiner Kindheit erzählten meine Eltern und deren Freunde mir Geschichten, das spielt bestimmt eine Rolle. Erst neulich sagte mein Vater (Anm. d. R. : der legendäre Biologe Rupert Sheldrake) , mein Bruder Cosmo und ich seien immer leichter zu begeistern gewesen, wenn man uns Geschichten erzählte, als wenn man uns vorlas. Und er hat über Jahre hinweg viele wundervolle Gute-Nacht-Geschichten für uns erfunden. Als ich älter war, habe ich viel gelesen. Das hat sicher dazu beigetragen, dass ich begann erzählerisch zu denken. Außerdem habe ich immer Musik gemacht, und auch der Jazz hatte Einfluss darauf, wie ich heute erzähle. Wenn man Improvisiert, ist es, als würde sich eine Geschichte entspinnen, deren Ende man noch nicht kennt. Man folgt dem roten Faden, verknotet und entknotet ihn und findet sich an Orten wieder, an denen man nie zuvor gewesen ist.

Erst bei der Lektüre ihres Buchs begriff ich, wie viele Facetten die Welt der Pilze hat. Haben Sie uns nun alles erzählt, was man wissen sollte oder haben Sie eine Auswahl getroffen und nur von den spannendsten Aspekten Ihrer Forschung berichtet?
Das Reich der Pilze ist unglaublich vielseitig und kein einzelnes Buch könnte jemals alles erfassen, was man wissen sollte. Außerdem erfinden Fungi sich ständig neu und verweben sich mit ihrer Umgebung. Diese Verschlingung – mit sich selbst, ihrer Umwelt und anderen Organismen – ist die Basis ihrer Existenz. Das heißt, dass jede Beschäftigung mit ihnen zwangsläufig den Kontext in dem sie sich bewegen mit einbeziehen muss. Man kann keine klare Trennlinie ziehen. Ich habe allerdings versucht, die Aufmerksamkeit auf Teilbereiche zu lenken, die sonst nicht so große Beachtung finden. Aber natürlich bin ich voreingenommen und konnte nicht vermeiden, den Themen die mich faszinieren, besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
Gerade zu Zeiten der Corona-Pandemie hängt viel davon ab, wie präzise neueste Forschungsergebnisse vermittelt werden. Was könnte Ihrer Meinung nach an der Kommunikation zwischen Expert*innen und Laien verbessert werden?
Wir neigen dazu „die Wissenschaft“ und „die Laien“ als unverrückbare einzelnstehende Kategorien zu begreifen, aber die Realität sieht anders aus. Erstmal heißt es nicht die Wissenschaft, sondern die Wissenschaften. Dabei handelt es sich um einen vielfältigen, sich ständig weiterentwickelnden Zusammenschluss von Praktiken, Ideen und Werten. Und wissenschaftliche Themen sind nicht rein rational zu betrachten. Wissenschaftler*innen sind, und waren immer, emotionale, kreative, intuitive, ganzheitlich denkende Menschen, die Fragen stellen über eine Welt, die noch nicht katalogisiert und in Systeme eingeordnet ist. Eine Astronom*in kann Laie sein, wenn es um biochemische Fragen geht und eine Professor*in der Quantenmechanik kann naiv sein wie ein Schulkind, wenn man über die vergleichende Anatomie fossiler Fische spricht. Es gibt die unterschiedlichsten Kommunikationsstile. Manche Expert*innen besitzen ein überbordendes Selbstbewusstsein. Für diejenigen ist die Gefahr groß, Laien wie leere Gefäße zu behandeln, die man mit Fakten füllen muss. Ich persönlich lerne mehr, wenn man mich einlädt Fragen zu stellen und mir dabei hilft, herauszufinden, welches die wirklich wichtigen Fragen überhaupt sind. Das war mein Ansatz, als ich “Verwobenes Leben” geschrieben habe.
Diese Bücher zu wissenschaftlichen Themen haben Merlin Sheldrake inspiriert:
Double Blind – Edward St. Aubyn
“Dieser schillernde Roman untersucht einige der bedeutensten wissenschaftlichen Debatten der heutigen Zeit und ist meiner Meinung nach ein Must Read.” – Merlin Sheldrake (erscheint im Oktober 2021 unter dem Titel ‘Dilemma’ in deutscher Übersetzung im Piper Verlag ).
+The Age of Wonder – Richard Holmes
“Eine faszinierende Untersuchung der Beziehung zwischen
Poesie und Wissenschaft im 18. Und frühen 19. Jahrhundert.”
– Merlin Sheldrake
+Microcosmos – Lynn Margulis & Dorion Sagan
“Margulis ist eine der wichtigsten Stimmen der Biologie des 20. Jahrhunderts.
Sie setzte sich stark dafür ein, das Leben als symbiotischen Prozess zu begreifen.”
– Merlin Sheldrake
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