Brücken zu bauen zwischen Menschen und Büchern beschäftigt Thomas Zirnbauer – in seinem Beruf als Pressereferent und Initiator des Lesekreis-Portals bei dtv, aber auch als Herausgeber und Autor („Deutsche Literatur in 60 Minuten“).
Für die mojoreads Reihe „Zwei Handvoll Lieblingsbücher“ hat er im Black History Month zehn Bücher, geschrieben von schwarzen Autor:innen, ausgewählt.
Zu seiner Auswahl sagt er: “Ich bin kein Experte für Literatur schwarzer Autor:innen. Ich lese wie viele andere auch und bin geprägt von dem, was es an Schullektüren gab (so einiges) und was in den Bücherregalen zuhause (sehr vieles) und in der Stadtbibliothek zu entdecken war (ganz anderes). Texte schwarzer Autor:innen waren kaum darunter.
Wenn ich hier zwei Handvoll Lieblingsbücher, geschrieben von schwarzen Autor:innen, zusammenstelle, so ist das kein Kanon, keine Liste von Must-Reads. Es sind Bücher, die in meiner mehr als vierzigjährigen Lesebiografie Spuren hinterlassen haben, die ich mit Emotion und intellektueller Anregung verbinde, die mich erschüttert und beschäftigt haben – privat und beruflich. Für drei der Titel durfte ich die Pressearbeit machen.
Ich wünsche diesen zehn Büchern auch deshalb viele Leser:innen, weil sie meinen Blick auf die Welt verändert haben – auf die Welt von gestern wie die von heute und auf jene Welt, die jeder Mensch in sich trägt. Was will man mehr von Literatur?“
Marie Ndiaye: “Drei starke Frauen”
Marie Ndiaye ist die erste schwarze Schriftstellerin, die den Prix Goncourt erhielt: 2009 für „Trois femmes puissantes“ (Auf Deutsch u.d.T. „Drei starke Frauen“ aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer). Es geht um drei sehr unterschiedliche Frauen, deren Schicksale in Frankreich und im Senegal die Autorin in drei Episoden geschickt miteinander verknüpft – und zugleich ist das große Thema des Romans, Fesseln zu lösen.
Verlagsinfo: Die vierzigjährige Norah gibt dem Drängen ihres Vaters nach und besucht ihn in Dakar: Die Juristin soll ihren Bruder aus dem Gefängnis holen. Das schwierige Treffen mit dem Vater führt die Frau an den Rand des Wahnsinns. Fanta hat im Unterschied zu Norah Dakar verlassen, um ihrem Ehemann Rudy in die französische Provinz zu folgen. Sie gibt sich dort vor Langeweile auf, so meint Rudy, durch dessen Perspektive wir von Fanta erfahren – doch ihm entgeht Entscheidendes. Von Afrika aus betrachtet erscheint ihre Existenz geradezu luxuriös und begehrenswert, weshalb Khady, die junge Afrikanerin, illegal nach Frankreich einzuwandern sich bemüht – doch sie endet, tot, an Grenzen. Drei Lebensläufe, drei starke Frauen, die ihre Würde verteidigen, indem sie sich im entscheidenden Moment weigern, so zu handeln, wie es die Umgebung verlangt.
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Michelle Obama: “Becoming”
Auch sie war die Erste: In „Becoming“ erzählt Michelle Obama offen und dankbar ihren Weg, der sie aus einfachen Verhältnissen bis ins Weiße Haus führte – als erste schwarze First Lady an der Seite des ersten schwarzen US-Präsidenten. Doch bedeutete dies auch, dass die Absolventin der Elite-Uni Princeton ihre eigene Karriere als Anwältin beendete. Darin ist sie nicht die erste und nicht die letzte Frau. Wie sie über ihre Entwicklung vom Becoming Me über das Becoming Us zum Becoming More erzählt, ist so gar nicht auftrumpfend, und vielleicht gerade deshalb ein bisschen einschüchternd, aber ebenso inspirierend.
Verlagsinfo: Michelle Obama ist eine der überzeugendsten und beeindruckendsten Frauen der Gegenwart. In diesem Buch erzählt sie nun erstmals ihre Geschichte – in ihren eigenen Worten und auf ihre ganz eigene Art. Sie nimmt uns mit in ihre Welt und berichtet von all den Erfahrungen, die sie zu der starken Frau gemacht haben, die sie heute ist. Warmherzig, weise und unverblümt erzählt sie von ihrer Kindheit an der Chicagoer South Side, von den Jahren als Anwältin und leitende Angestellte, von der nicht immer einfachen Zeit als berufstätige Mutter sowie von ihrem Leben an Baracks Seite und dem Leben ihrer Familie im Weißen Haus. Gnadenlos ehrlich und voller Esprit schreibt sie sowohl über große Erfolge als auch über bittere Enttäuschungen, den privaten wie den öffentlichen. Dieses Buch ist mehr als eine Autobiografie. Es enthält die ungewöhnlich intimen Erinnerungen einer Frau mit Herz und Substanz, deren Geschichte uns zeigt, wie wichtig es ist, seiner eigenen Stimme zu folgen.
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Colson Whitehead: “Underground Railroad”
„Underground Railroad“ ist keine U-Bahn-Strecke, sondern ein Untergrundnetzwerk, das Sklav:innen im 19. Jahrhundert zur Flucht aus den Sklavenhalterstaaten des Südens in den Norden der USA verhalf. Colson Whitehead gelang mit diesem Roman (seinem sechsten!) der internationale Durchbruch. Eine harte Lektüre mit einer starken Frauenfigur im Mittelpunkt. Die fantastische deutsche Übersetzung stammt von Nikolaus Stingl.
Verlagsinfo: Cora ist nur eine von unzähligen Schwarzen, die auf den Baumwollplantagen Georgias schlimmer als Tiere behandelt werden. Alle träumen von der Flucht – doch wie und wohin? Da hört Cora von der Underground Railroad, einem geheimen Fluchtnetzwerk für Sklaven. Über eine Falltür gelangt sie in den Untergrund und es beginnt eine atemberaubende Reise, auf der sie Leichendieben und Kopfgeldjägern, aber auch heldenhaften Bahnhofswärtern begegnet. Jeder Staat, den sie durchquert, hat andere Gesetze, andere Gefahren. Wartet am Ende wirklich die Freiheit?
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James Baldwin: “Nach der Flut das Feuer”
Jede Zeile von James Baldwin ist es wert gelesen zu werden, jede Rede, jedes Interview gehört zu werden. Wieder und wieder. „The Fire Next Time“ (In der Übersetzung von Miriam Mandelkow, der deutschen Stimme James Baldwins im 21. Jahrhundert, u.d.T. „Nach der Flut das Feuer“) entwickelt auch beim wiederholten Lesen eine geistige Schärfe und emotionale Kraft, die ihresgleichen sucht.
Verlagsinfo: James Baldwin war zehn Jahre alt, als er zum ersten Mal Opfer weißer Polizeigewalt wurde. Dreißig Jahre später, 1963, brach ›Nach der Flut das Feuer ‒ The Fire Next Time‹ wie ein Inferno über die amerikanische Gesellschaft herein und wurde sofort zum Bestseller. Baldwin rief dazu auf, dem rassistischen Alptraum, der die Weißen ebenso plage wie die Schwarzen, gemeinsam ein Ende zu machen. Ein Ruf, der heute wieder sein ganzes provokatives Potenzial entlädt: »Die Welt ist nicht länger weiß, und sie wird nie mehr weiß sein.«
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Richard Wright: “Black Boy”
Wie James Baldwin floh Richard Wright regelrecht aus den USA nach Europa. Seit 1946 lebte er – bis zu seinem frühen Tod 1960 – in Frankreich. Seine Autobiografie „Black Boy“ von 1945 erzählt von seiner Kindheit und Jugend in den 1920ern und 1930ern in Georgia. Die geschilderten Erfahrungen sind exemplarisch (auch mit zahlreichen Parallelen zu James Baldwins Leben), und doch ist dieses Buch das ganz eigenständige Dokument einer literarischen und politischen Selbstbefreiung. Gelesen habe ich es mit ungefähr 17 Jahren und war schwer beeindruckt. Eine bleibende Erinnerung.
Verlagsinfo: Wright’s once controversial, now celebrated autobiography measures the raw brutality of the Jim Crow South against the sheer desperate will it took to survive as a black boy. Enduring poverty, hunger, fear, abuse, and hatred while growing up in the woods of Mississippi, Wright lied, stole, and raged at those around him—whites indifferent, pitying, or cruel and blacks resentful of anyone trying to rise above their circumstances. Desperate for a different way of life, he may his way north, eventually arriving in Chicago, where he forged a new path and began his career as a writer.
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Ayana Mathis: “Zwölf Leben”
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts zogen mehrere Millionen Schwarze aus dem Süden der USA in den Norden – auf der Suche nach einem besseren Leben. „The Great Migration“ ist verbunden mit Hoffnungen und Enttäuschungen, mit der Angst um Leib und Leben, mit dem Beharren auf dem Recht auf Würde und Selbstbestimmung. Davon erzählt Ayana Mathis in „The Twelve Tribes of Hattie“ (auf Deutsch von Susanne Höbel u.d.T. „Zwölf Leben“). Die zwölf Lebensgeschichten umspannen den Zeitraum 1925 bis 1980 und bilden zusammen ein eindrucksvolles Panorama schwarzen Lebens in den USA des 20. Jahrhunderts.
Verlagsinfo: Als Hattie ihre erstgeborenen Zwillinge Philadelphia und Jubilee taufte, war das Ausdruck einer großen Hoffnung. Hatte der Norden, die »Wiege der Freiheit«, den Schwarzen, die aus dem Süden kamen, nicht Gleichheit und Wohlstand versprochen? Und schmeckte das Leben in dem kleinen Haus an der Wayne Street nicht nach Zukunft? Hattie wird noch viele weitere Kinder bekommen, aber kaum etwas von ihren Hoffnungen wird sich erfüllen. Schmerz über Versagen und Schicksalsschläge überschattet Hatties Dasein. Es ist ein Schmerz, der sich fortschreiben wird in die nächste Generation.
Doch diese Saga um eine außergewöhnliche Frau und ihre zwölf Kinder, die als Geschichte der Great Migration beginnt und sich zum Tableau mit zwölf Einzelporträts über das ganze zwanzigste Jahrhundert weitet, ist trotz Scheitern und Enttäuschung ein vitales Epos – voller Lebenskraft und verhaltener Zärtlichkeit, voller Mut und Entschlossenheit im Kampf gegen Bitterkeit.
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Toni Morrison: “Jazz”
Toni Morrisons Roman „Jazz“ spielt im Harlem der 1920er und ist so musikalisch, wie der Titel vermuten lässt. Das Buch hat einen ganz eigenen, atemlosen Sound, greift Elemente des Jazz erzählerisch auf – mit Improvisation, Frage-Antwort-Spiel, Wiederholungen, Motivvarianten. Das ist komplex, aber auch faszinierend. Auf Deutsch von der preisgekrönten Helga Pfetsch.
Verlagsinfo: Eine Party in einem Mietshaus in der Lenox Avenue, Harlem, 1926: Die schwarzen Bewohner lassen sich mitreißen vom Hoffnungsrhythmus der Zeit, des “Jazz Age”. Plötzlich ein Schuß – die sahnefarbene achtzehnjährige Schönheit Dorcas liegt tot in ihrem Blut. Der Mörder: Joe Spur, fünfzig, ihr Geliebter. Kein Wort davon zur Polizei – mehr als den Tod fürchtet man das “weiße” Gesetz. Vielmehr entsteht eine sonderbare Freundschaft zwischen Joes Frau Violet und der Adoptivmutter der Toten, eine Ehe lebt auf … Ein erstaunlicher Roman über den düsteren Glanz der Leidenschaft.
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Fran Ross: “Oreo”
„Oreo“ von Fran Ross ist in jeder Hinsicht ein Solitaire. Nicht nur weil es das einzige Buch der US-Amerikanerin blieb, die 1985 mit 50 Jahren starb. Sie lässt die 16-jährige, so selbstbewusste wie schlagfertige Christine – aus einer jüdischen und einer schwarzen Familie stammend –, von ihrer Suche nach ihrem Vater erzählen. Ach was, erzählen, sie schleudert dir ihre Geschichte entgegen. Und so wie sie viele Identitäten hat, ist auch dieser Roman ein wilder Mix. Für ein so verrücktes Buch braucht es eine Übersetzer:in, die ihm an Witz und Erfindungsreichtum gewachsen ist: Pieke Biermann. Das sah auch die Jury des Leipziger Buchpreises so und zeichnete sie 2020 für ihre Übertragung aus.
Verlagsinfo: Christine ist sechzehn, hat eine schwarze Mutter und einen jüdischen weißen Vater und wächst auf in Philadelphia, verspottet als »Oreo« (wie der Keks) – eine doppelte Außenseiterin. Der Vater hat sich früh aus dem Staub gemacht und ihr ein Geheimnis hinterlassen, für dessen Lösung sie ihn finden muss. Auf nach New York! Unterwegs trifft sie unglaubliche Leute: einen schwulen »Reisehenker«, der anonym Manager feuert, einen Radio-Macher, der nicht spricht, einen grotesk tumben Zuhälter und endlich auch ihren Vater. Nicht jeder ist ihr wohlgesinnt. Aber Oreo überlebt alle und alles dank ihres selbsterdachten Kampfsports WITZ, getreu ihrem Motto: »Niemand reizt mich ungestraft.« Oreo folgt der Theseus-Sage mit all ihren Volten bis zum letzten irrwitzigen Twist, dem Vatergeheimnis. Aber der antike Held ist heute jüdisch, schwarz und weiblich.
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Ralph Ellison: “Der unsichtbare Mann”
Nicht gesehen zu werden, ist eine grundlegende, oft traumatisierende Erfahrung aller, die Diskriminierung erleben. Ralph Ellison formte 1952 diese Erfahrung in einen symbolisch aufgeladenen Roman: In „The Invisible Man“ – nicht zu verwechseln mit H.G. Wells‘ gleichnamigem Science-Fiction-Roman – erzählt ein namenlos bleibender Schwarzer von seiner Odyssee durch das gesamte Spektrum der amerikanischen Gesellschaft und der doch nie gesehen wird. Das hat durchaus kafkaeske Elemente. Auch eine frühe, eindrückliche Leseerfahrung. Die deutsche Übersetzung von „Der unsichtbare Mann“ von Georg Goyert ist 2019 in von Hans-Christian Oeser überarbeiteter Fassung erschienen.
Verlagsinfo: Ralph Ellison, neben Toni Morrison und James Baldwin eine der großen Stimmen des afroamerikanischen Romans der Gegenwart, gewann 1953 den National Book Award und wurde mit seinem gefeierten Debüt schlagartig berühmt. Die Geschichte von der Odyssee eines namenlosen Schwarzen, die ihn von ganz oben bis ganz unten durch alle Schichten der amerikanischen Gesellschaft führt, ist eines der Lieblingsbücher von Barack Obama und bleibt hochaktuell: als schonungslose Abrechnung mit den alltäglichen rassistischen Ideologien und als Lob auf das gewachsene Selbstbewusstsein der noch immer um ihre selbstverständlichen Rechte Kämpfenden.
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Mama Mengiste: “The Shadow King”
Maaza Mengistes Roman „The Shadow King“ ist der erste Kriegsroman aus weiblicher Perspektive mit weiblichen Hauptfiguren – zumindest nach meiner Kenntnis. Er erzählt die wenig bekannte Geschichte des Widerstands äthiopischer Frauen gegen die Besatzung ihres Landes durch das faschistische Italien in den 1930ern. Das so wuchtige wie wichtige Buch stand auf der Shortlist des Booker Prize 2020.
Verlagsinfo: With the threat of Mussolini’s army looming, recently orphaned Hirut struggles to adapt to her new life as a maid. Her new employer, Kidane, an officer in Emperor Haile Selassie’s army, rushes to mobilize his strongest men before the Italians invade. Hirut and the other women long to do more than care for the wounded and bury the dead. When Emperor Haile Selassie goes into exile and Ethiopia quickly loses hope, it is Hirut who offers a plan to maintain morale. She helps disguise a gentle peasant as the emperor and soon becomes his guard, inspiring other women to take up arms. But how could she have predicted her own personal war, still to come, as a prisoner of one of Italy’s most vicious officers?
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